Vor einiger Zeit habe ich im Radio ein Live-Konzert des schwedisch-südafrikanischen Duos FJARILL aus Hamburg gehört. Ich blieb hängen, war überrascht, spürte aber gleichzeitig etwas Vertrautes – das war wunderbar. Geige, Klavier, Gesang. Die Musik der Schwedin Aino Löwenmark und der Südafrikanerin Hanmarie Spiegel klang ruhig und klar, traumhaft schön und doch greifbar. Ich genoß das Tempo, die Wärme, die Leidenschaft – mal lebhaft, mal farbenfroh, mal hauchzart und immer ein bisschen geheimnisvoll, mit einer märchenhaften Aura.
2004 haben sich die beiden Musikerinnen in Hamburg kennengelernt und in ihrem Schaffen unter dem Namen FJARILL zusammengetan. Seitdem haben sie neun Alben veröffentlicht und ihr Publikum bei zahlreichen Livekonzerten verzaubert.
Mich hat die Musik neugierig gemacht auf dieses Duo mit dem besonderen Namen –und sie hat mich zu stillen, sanften Fotografien inspiriert, die Raum für Gefühle und Gedanken lassen…
POËSI – das neue Album
Heute, am 30. April, erscheint das neue Album von FJARILL. Und der Name ist Programm: POËSI. Es ist zwei Literatur-Nobelpreisträgern gewidmet, dem Schweden Pär Lagerkvist und der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Nelly Sachs. Beide sind 1891 geboren.
Nelly Sachs schrieb bereits mit 17 Jahren Gedichte. Ihre Bestimmung zum Schreiben wurde aber erst durch die Vernichtung des jüdischen Volkes durch die Nazis ausgelöst. 1940 floh sie von Berlin nach Stockholm. Ihre dichterische Absicht war, das Leiden der Menschen ihrer Zeit sichtbar zu machen, das Martyrium des jüdischen Volkes ins Wort zu setzen. Das Schreiben war für sie die einzige Möglichkeit, das Grauen zu verarbeiten. In ihren Gedichten stehen schmerzende Wahrheiten neben zärtlich romantischen Worten – was die Inhalte noch tiefer dringen lässt.
Auch den schwedischen Schriftsteller Pär Lagerkvist haben die zwei erlebten Weltkriege geprägt. Die Angst, die Frage nach dem Sinn des Lebens, der Vergänglichkeit und dem Glauben, die Sehnsucht und die Liebe sind zentrale Themen seiner Gedichte. Themen, die uns gerade in Zeiten der Pandemie noch einmal verstärkt beschäftigen.
VÅR ÄR HIMMELN… unser ist der Himmel…
Aber diese Welt, die zerbrechlichste von allen,
ist in ihrer Schwäche unvergänglich…
(Pär Lagerkvist, Titel aus dem CD-Booklet POËSI)
FJARILL hat den Worten – den hoffnungsvolleren und den traurigen – Melodien gegeben und sie ins Jetzt getragen.
Hier nehme ich euch gefangen
ihr Worte
Wie ihr mich buchstabierend bis aufs Blut
gefangen nehmt
ihr seid meine Herzschläge
zählt meine Zeit
diese mit Namen bezeichnete LeereLaßt mich den Vogel sehen
der singt
sonst glaube ich die Liebe gleicht dem Tod -Nelly Sachs
Mit Worten und Klängen Welten erschaffen
Nadja Küchenmeister, deutsche Lyrikerin der Gegenwart, hat einmal gesagt: “Alles, was in der Welt ist, hat Platz im Gedicht. Alles, was fehlt, erst recht.”
Auf kleinem Raum können die Worte so groß, irritierend, tröstend oder so beglückend wirken. Manchmal auch unbestimmt, offen und rätselhaft – und gemeinsam mit Musik entstehen wundervolle Klangbilder.
Die Musik auf dem Album POËSI bewegt sich zwischen Folk, Pop, Jazz und Klassik. Die Pianistin Aino Löwenmark schafft gemeinsam mit der Violinistin Hanmarie Spiegel – ergänzt durch Bass, Gitarre, Akkordeon und Percussion – magische Klangfarben. Gesungen wird auf Schwedisch und – neu für FJARILL – auf Deutsch.
FJARILL – Kreativität und Musikalität
In Zeiten der Pandemie musste auch FJARILL sich etwas gegen Stillstand und Stille einfallen lassen. Mutig starteten die beiden Musikerinnen zur Finanzierung des neuen Albums eine Crowdfunding-Kampagne.
Ich habe mich mit Aino Löwenmark und Hanmarie Spiegel über ihre Musik, das neue Album und die Poesie unterhalten…
FJARILL – das klingt sehr poetisch. Was bedeutet es genau?
Fjarill ist ein Phantasiename, mit Assoziationen zu dem schwedischen Wort „fjäril“ … was Schmetterling bedeutet. Wir haben uns diesen Namen im Jahr 2005 gegeben, weil wir „leicht“ und „elegant“ klingen wollten. Mit der Zeit sind aber noch viele andere Bedeutungen hinzugekommen. Bevor ein Schmetterling fliegen kann, muss er eine Metamorphose durchleben. Aus einem relativ hässlichen Würmchen wird ein bunter Falter.
Die Frage ist, ob das Bewusstsein eines Schmetterlings auch immer noch die Erinnerung an das Raupen-Dasein in sich trägt? Sollten wir mal die Gelegenheit bekommen, einen richtigen Schmetterling zu fragen, wäre das sehr interessant zu erfahren. Denn auch wir Menschen leben nicht nur mit unserem aktuellen Bewusstsein, sondern schöpfen aus den Erfahrungen unserer Herkunft, unserer Heimat und aus unseren Vorfahren.
Was haben Kreativität und Musik für Sie als Kinder bedeutet? … und heute?
Musik lässt andere Welten entstehen, in die man reinsteigen kann. Schon als Kind war Musik ein Eintreten in eine andere Dimension. Heute ist es genauso. Obwohl wir an zwei völlig verschiedenen Orten dieser Erde aufgewachsen sind, hat uns die Musik in unseren Familien immer begleitet. Es wurde sowohl in Schweden als auch in Südafrika immer viel gesungen und Hausmusik gemacht. Ein Familientreffen ohne Musik war und ist für uns undenkbar. Das haben wir in unseren eigenen Familien fortgeführt, denn wir beide haben sehr musikalische Ehepartner geheiratet und auch unsere Kinder machen heute schon viel Musik.
Wie haben Sie es denn geschafft, einen eigenen Weg zu finden, einen eigenen Stil, eine Form des Ausdrucks?
Durch praktische Erfahrung, durch viele Konzerte, durch viel Live-Spielen. Erst durch das eigene Tun entwickelt man den eigenen Stil. Sicherlich war er vorher schon angelegt, musste aber erst aufgeweckt werden und hat sich in den Jahren verfeinert und fokussiert. Wichtig ist, sich selbst treu zu beleiben und nicht einem Produkt nachzueifern. Dann ist der Weg authentisch und gehaltvoll.
Wo finden Sie Inspiration?
In der Natur, in der Philosophie, in der Poesie, im authentischen Ausdruck anderer Musiker, in Kompositionen, in Kunstwerken, in Beziehungen … eigentlich überall im Leben, wo man mit etwas oder jemandem in Kontakt ist.
Inwieweit prägen Ihre Herkunftsländer Ihre Kunst? Spielen Traditionen dabei auch eine Rolle?
Ja absolut, die Herkunft sitzt in jeder Zelle … die schwedische Sprache und die Melodien der schwedischen Volkslieder haben eine starke Prägung. Wenn wir einen Text auf Afrikaans schreiben, klingt auch unsere Musik etwas anders. Wir beide haben auch einen intensiven Chor-Hintergrund, was einen Einfluss auf die Harmonien bei uns beiden hat. Deswegen lieben wir es, zweistimmig zu singen.
Auf Ihrer neuen CD POËSI lassen Sie Gedichte von Nelly Sachs und Pär Lagerkvist zu Musik werden. Worin lag die Herausforderung?
Bei Nelly Sachs fanden wir, dass die Gedichte schwer zu vertonen waren, da das Metrum sehr unregelmäßig ist. Die Melodien haben sich Zeit gelassen, waren aber dann plötzlich da. Wir haben versucht, einfache Melodien zu schweren Gedichten zu schaffen, auch um sie zugänglicher zu machen. Die Schwierigkeit ist immer, dass es mühelos klingen muss und so natürlich wie möglich.
Wie gelingt das genau?
Genau durch die einfachen Melodien wird es leichter. Wenn man eine schwere, komplexe Musik einem schweren, komplexen Text hinzufügt, wird alles sehr schwer verdaulich. Komplexität soll auch verstanden werden, da hilft die Musik!
Die Gedichte von Pär Lagerkvist waren etwas leichtgängiger – vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie auf Schwedisch waren.
Was hat Sie bei der Verwandlung der Gedichte in Musik am meisten bewegt? Gab es besondere Momente?
Ja, sehr viele … bei einem Text von Nelly Sachs („Für Nelly Sachs“) tanzt sie für ihren Vater. Diesen Tanz haben wir versucht, in ein Musikvideo umzusetzen („Hier nehme ich euch gefangen/ihr Worte“). Bei Pär Lagerkvist ist der Text von „Glömma Glömma“ so passend zu diser Pandemiezeit … Projekte, die sterben, Konzerte, die nicht gespielt werden. Das hat uns zwischendurch auch traurig gestimmt. Die Musik war ein gutes Medium, verschiedenste Gefühle auszudrücken.
Gibt es denn Titel, die Sie ganz besonders berühren?
Alle … jedes Gedicht ist ein Wesen für sich und die sind alle so besonders.
Wir leben in einer sehr schnellen, durchgetakteten Zeit. Wieviel Raum ist da für Gedichte und Poesie?
Die Zeit sollte man sich unbedingt nehmen, sonst geht die Seele kaputt! Wir hatten das Glück, dass wir uns fast acht Monate Zeit lassen mussten (konnten) mit der Produktion des Albums. Wegen der Kontaktbeschränkungen haben wir mit unserem Produzenten Stephan Gade nur digital kommuniziert, obwohl er auch in Hamburg lebt. Dadurch hat alles etwas länger gedauert. Aber wir sind froh, denn so konnten wir uns sehr intensiv mit den Texten und den Melodien beschäftigen. Das hat tatsächlich noch mal vieles verändert und poetischer werden lassen. Die Lyrik von Nelly Sachs und Pär Lagerkvist ist nicht immer leichtgängig. Sie fordert Zeit, sie reift, je öfter man die Gedichte liest und am Ende sinkt sie ganz tief in das Bewusstsein ein. Das ist der Zauber richtig guter Lyrik. Der Nobelpreis für Literatur wurde den beiden ja nicht umsonst verliehen.
Woran erkennen Sie eigentlich, ob eine Komposition fertig ist?
Das spürt man einfach … und doch wird sie nie fertig … In all den Jahren haben wir unsere Lieder immer und immer wieder gespielt – und sie haben sich mit uns weiter entwickelt. Manchmal, mitten im Konzert, verlieren wir uns darin. Dann fangen wir an zu improvisieren, ab und zu verweben wir zwei Lieder von uns ineinander. Eigentlich weiß man nie, wie sich ein Konzert entwickelt. Und so komponieren wir auch. Nichts ist festgeschrieben, alles ist erlaubt. Das ist unsere Freiheit.
Worin liegt die Schönheit eines Liedes?
In dem Moment, in dem etwas berührt wird. Manchmal ist es wie ein Gewittersturm, der die Seele durchrüttelt und manchmal ist es eben der leise Flügelschlag eines Schmetterlings – der aber dieselbe Wirkung erzielt.
Kreativität entsteht ja häufig aus Mangel, aus Krise. Inwiefern könnte die Pandemie vor diesem Hintergrund die Musik und die Kunst verändern?
Aus der Leere entstehen neue Welten und somit können neue Sachen wachsen. Die Pandemie ist auch eine Möglichkeit für eine positive Veränderung und neue Formate … Wir haben den Kontakt zu unserem Publikum verloren, das hat weh getan und es tut immer noch weh. Deswegen haben wir unser Publikum gefragt, ob wir ein Album mit vertonten Gedichten produzieren sollen und ob alle mithelfen wollen, es zu finanzieren.
Die Reaktion war atemberaubend. Unser Crowdfunding-Ziel war in kürzester Zeit erreicht. Das hat gut getan und hat uns ganz viel Kraft gegeben. Ohne die Not wären wir diesen Weg vielleicht gar nicht gegangen. Das sagen wir uns, wenn wir das absolut Positive daraus ziehen möchten, aber dieser Zustand ohne Konzerte soll nicht sein! Wir brauchen keine Pandemie, um unsere Kreativität zu erhöhen.
Nicht alle Menschen verstehen die schwedischen Texte. Welchen Effekt hat das?
Die Menschen dürfen ihr analytisches Gehirn in die Ferien schicken und eigene Bilder entstehen lassen. Das gibt uns viel Freiheit, bedeutet aber auch für das Publikum frei zuzuhören. Wir übersetzen in unseren CD Booklets auch nur so sinngemäß wie möglich und in Konzerten erzählen wir natürlich viel über die Lieder. Aber uns ist es am liebsten, wenn jeder sich von seiner eigenen Fantasie treiben lässt.
Ermöglicht hat das neue Album eine Crowdfunding-Kampagne. Wie hat sich das angefühlt?
Wunderbar! So viele tolle, treue Menschen, die mit offenen Herzen an uns glauben! Ohne die üblichen Konzerteinnahmen waren wir zunächst etwas ratlos. Dann dieser Zuspruch. Wir haben ja nicht nur Geld bekommen, sondern auch viele E‑Mails mit unglaublich ermutigenden Worten. Jeder, der uns unterstützt hat, hat das Album schon vor Wochen per Post bekommen. Auch daraufhin haben wir so viele tolle Reaktionen erhalten. Das fühlt sich einfach unglaublich gut an.
Bald werden hoffentlich wieder Konzerte stattfinden. Wissen Sie vor einem Konzert, wohin es Sie trägt?
Jedes Konzert ist unique. Man kann nicht wirklich wissen, wo die Reise hingeht. Die Interaktion mit dem Publikum, der Klang im Raum – das alles spielt eine große Rolle.
Was haben Sie in der Pandemie über sich selbst gelernt?
Zu viel auf dem Sofa sitzen macht Ischias!
Der wohl schönste Ort für ein Livekonzert?
Das Bardentreffen in Nürnberg! Es fand in einer alten Ruine statt und war einfach großartig. In Hamburg spielen wir am allerliebsten in der St. Katharinenkirche. Dort herrscht immer eine ganz besondere Stimmung.
Haben Sie schon ein neues Projekt im Kopf?
… vielleicht irgendwann eine ganze Platte mit Gedichten von Nelly Sachs…!
Herzlichen Dank!
Die Musik von FJARILL ist eine Einladung, immer wieder aufs Neue genau hinzuhören, hinzuschauen und jenseits des Offensichtlichen etwas aufzuspüren.
Musik – sie heitert uns auf, rührt uns zu Tränen, bewegt uns. Musik ist der Schlüssel zu einer Welt voller besonderer Momente und ein unschätzbar wertvoller Teil unserer Kulturen.
Und auch wenn wir eigentlich nichts besäßen – die Schönheit der Natur, der Worte und der Musik stünden uns immer zur Verfügung.
“Die Engel sind stark in den Schwachen”
Nelly Sachs
Das Album POËSI erscheint am 30.4. 2021 auf dem Label “Butter & Fly Records” im Vertrieb von “Indigo”. Es ist als CD, Download & Stream erhältlich.
Die Fotos von Aino Löwenmark und Hanmarie Spiegel stammen von der Fotografin Anne De Wolff .
Weitere Informationen zu FJARILL, Tourdaten und Workshopangebote finden Sie unter www.fjarill.de
Zu dem vertonten Gedicht “Hier nehme ich euch gefangen / ihr Worte” von Nelly Sachs gibt es ein Video auf YouTube .
Die weiteren Fotos, die diesen Beitrag illustrieren, habe ich auf dem größten Parkfriedhof der Welt, dem Ohlsdorfer Friedhof, gemacht. Mit seinen 389 Hektar liegt er mitten in Hamburg. Der 1877 eröffnete Friedhof mit seinen zahlreichen Skulpturen, dem gewaltigen Baumbestand, den Seen und der eindrucksvollen Gartenarchitektur ist ein Gesamtkunstwerk und beeindruckendes Kulturdenkmal. Inspiriert hat mich das Lebensthema “werden, sein, vergehen”, das in den Gedichten von Nelly Sachs und Pär Lagerkvist eine zentrale Rolle spielt.
Weitere Informationen: Friedhof Ohlsdorf
Weitere Empfehlung:
Hejsan, es ist mein Lieblingsduo, meine liebste inspirierende Musik, seit 2009. Ich habe all‘ ihre wundersamen CD‘s. Die Neueste schon ein bisschen eher erhalten und träume mich mit ihr fort. Im letzten Sommerulaub war ich in Rönnäng auf der schwedischen Schäreninsel Tjörn, wo Pär Lagerkvist sein Sommerhaus hatte, wo er sich zum Schreiben zurückzog.
Nun seine Texte vertont von Fjarill, das ist ganz besonders für mich.
Und nun entdecke ich bei Instagram @derblauediszelfink und sehe in der Story ein Bild von Fjarill … Zufall oder Fügung oder etwas Magisches dazwischen.
Danke für den tollen Artikel.
Tack så mycket 😉
Liebe Juliane,
ich freue mich, das zu lesen, herzlichen Dank! Die Musik von Fjarill ist wirklich besonders und eindringlich. Wie schön, dass Sie so einen engen Bezug zu den Gedichten von Pär Lagerkvist haben. Das Sommerhaus ist gewiss ein inspirierender Ort und wenn sie die Lieder von Fjarill hören, haben sie vielleicht die wunderbare schwedische Landschaft vor Augen? Musik kann uns überall hintragen… Hoffentlich haben wir bald wieder die Möglichkeit, Fjarill in einem Konzert zu erleben.
Ich freue mich, dass Sie meinen Artikel gefunden haben und grüße Sie herzlich!
Larissa Wasserziehr