Das Leben ist eine Aneinanderreihung von Augenblicken. Oft sind es kleine Augenblicke, die uns in neue Richtungen führen oder uns Erlebnisse, Erfahrungen und Begegnungen bescheren. Augenblicke, die uns nachhaltig inspirieren, beeinflussen und somit prägen.
Meine heutige Geschichte beginnt in einer Buchhandlung, in der ich einen kleinen Augenblick länger blieb als eigentlich geplant. Die engagierte Buchhändlerin drückte mir mit einem Strahlen im Gesicht ein Buch in die Hand und empfahl voller Begeisterung: “Das müssen Sie lesen, es hinterlässt ein so schönes Gefühl. Ein besonderes kleines Buch…”. Auf dem Cover sind ein junger Esel und ein Herr mit einem Regenschirm abgebildet.
Pawlowa – oder Wie man eine Eselin um die halbe Welt schmuggelt von Brian Sewell.
Und siehe da – wie es Bücher so oft an sich haben, öffnete auch die Lektüre dieses Buches eine Tür in eine kleine, ganz freundliche Welt….
Esel – Rendezvous mit wunderbaren Geschöpfen
Brian Sewell war ein renommierter britischer Kunstkritiker, Kolumnist und Beobachter des kleinen Moments. Er hat die Geschichte über Mister B, der auf einer Reise mit einem Fernsehteam nach Pakistan kurzerhand alle Pläne über Bord wirft, seinem Herz folgt und ein kleines misshandeltes Eselfohlen rettet, mit 83 Jahren kurz vor seinem Tode geschrieben.
“Mr B , ein drahtiger kleiner Mann von fünfzig Jahren mit weißem Haar, saß auf dem Rücksitz eines großen weißen Landrover, als er den Esel sah. Es war früher Abend, und der dichte Feierabendverkehr in Peshawar bewegte sich nur im Schneckentempo vorwärts – was auch gut war, denn Mr B öffnete plötzlich die Tür, sprang auf die Straße und verschwand ohne ein Wort zwischen den Karren und Lieferwagen, den Bussen und Motorrädern. (…) Als Dominic Mr B eingeholt hatte, stand dieser neben einem kleinen Esel, hatte den Arm um dessen Hals gelegt und tupfte mit seinem Taschentuch das Blut von vier tiefen Wunden im Rücken des Tieres. (…) ‘Was sollen wir den Leuten sagen, wenn wir wieder in London sind?’ fragte der Regisseur (…) ‘Die Wahrheit: dass ich eine kleine Eselin gefunden habe und mit ihr zu Fuß nach Hause gehe.’ (…)”
So beginnt die Geschichte über die Rettung der kleinen Eselin Pawlowa.
Tierfreund Sewell selbst hat, wie er in einem Interview erzählt, eine ähnliche Situation erlebt, jedoch nicht gehandelt. Die kleine erlebte Szene ging ihm wohl nicht aus dem Kopf und so schrieb er sie auf, wie sie sich hätte abspielen sollen. Dieses Buch über Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Vertrauen hat mein Herz erwärmt, wundervolle Bilder in meinem Kopf entstehen lassen und die Begegnung mit der kleinen Eselin Pawlowa hat mich dazu bewogen, mich mit den sympathischen Langohren noch einmal genauer zu befassen…
Des Esels Weg – Ricardas kleine Farm
Ich habe mich mit Ricarda von Holck von Des Esels Weg nordwestlich von Hamburg in Schleswig Holstein verabredet.
Gespannt biege ich mit meinem Auto auf den Hof der Esel-Liebhaberin. Und was für ein freundlicher Empfang! Die drei Hunde Trasto, Oswald und Hubert umwuseln mich freundlich zur Begrüßung, eine bunte Hühnerschar gackert munter vor sich hin und am Zaun formiert sich neugierig die kleine Eselherde. Mit aufgestellten Ohren begutachten sie mich, ein typisches I‑AH erklingt.
Esel – Charakterköpfe mit Herz
Ricarda hält seit 20 Jahren Großesel und hat, gemeinsam mit ihrem Mann Nicolas, seit 2017 die kleine Eselfarm in Horst bei Elmshorn. Sie bietet Eselwanderungen durch die umliegende Natur an. Manche Besucher kommen auch einfach nur, um mit den Grautieren ein wenig Zeit zu verbringen.
Bereits als Kind war Ricarda ganz vernarrt in Esel, hat alles rund um die Grautiere gesammelt und ihre Fachbücher hoch und runter studiert.
Sie stellt mir ihre Esel vor. Da ist Gaston, ein Poitou-Mix aus Frankreich. Typisch für die Rasse ist das lange zottelige Fell. Ganz ruhig streckt Gaston mir seine weiche Nase entgegen. “Die Esel lieben es, gekrauelt zu werden. Besonders mögen sie es in den großen Ohren und am Popo”, lacht Ricarda und streichelt ihrem Katalanischen-Riesenesel-Mix Valentin die langen Lauscher. Der hübsche dunkle Esel mit der hellen Nase senkt seinen Kopf und lässt die Unterlippe hängen – der Inbegriff eines entspannten Tieres.
Etwas zurückhaltender nähert sich ein großer weißer Esel mit freundlichem Blick. “Das ist Willi, ein American Mammoth Donkey”, erzählt mir Ricarda. Ein netter Geselle mit unendlich sanften, gütigen Augen. Doch wer knabbert an meiner Jacke? “Das ist mein neuester Esel”, schmunzelt Ricarda, “Hugo ist ein Hausesel und ein bisschen frech.” Hugo ist der klassische graue Esel mit dem typischen dunklen Fell-Kreuz auf dem Rücken, dem Aalstrich. “Esel brauchen unbedingt sozialen Kontakt zu ihren Eselkameraden. Sie betreiben Fellpflege, spielen, sind einfach beieinander”, so Ricarda weiter.
Esel oder Die Sehnsucht nach Entschleunigung
Wir stehen inmitten der Esel, streicheln und kraulen die großen Tiere. Es ist ein haptisches Vergnügen, mit den Fingern durch das dichte Fell zu fahren. Der warme Atem, der aus den Nüstern strömt, entspannt mich. Schnell spüre ich, was an diesen Tieren so besonders ist. Ich denke an Mr B und seine Fürsorglichkeit gegenüber der kleinen Eselin in meinem Buch.
Esel gelten als stur. Sind sie es? “Ich würde eher sagen, Esel haben eigene Ideen. Und sie brauchen manchmal Zeit, um sich ihre Umgebung anzuschauen. Haben sie Vertrauen, sind sie sehr lauffreudig, und es macht Spaß, mit ihnen spazieren zu gehen.” erklärt Ricarda mir.
“Eigentlich wurden Esel als Arbeitstiere genutzt, haben den Menschen die schwersten Arbeiten abgenommen. In manchen Ländern werden sie nach wie vor in vielen Bereichen eingesetzt. Wären sie dumm und störrisch, wie so oft behauptet, wäre das wohl kaum möglich”, ergänzt sie. “Eher sind sie zu gutmütig und werden deshalb oft ausgenutzt und zu schwer belastet.”
Jemand hat einmal gesagt: “Der Esel ist nicht stur. Er gibt dir nur die Zeit, über deine Fehler nachzudenken.”
Esel sind vorsichtige Tiere. Sie überlegen genau, wohin sie den nächsten Schritt setzen und wann der richtige Zeitpunkt ist. Geduld ist gefragt und Ruhe. Das tut doch eigentlich ganz gut, wenn die Welt um uns herum laut ist. Einfach mal stehenbleiben, prüfen… eine Haltung, von der wir lernen können. Manches muss erst mit Bedacht betrachtet werden, bevor man den nächsten Schritt tut – sonst könnte man sich das Genick brechen.
“Hab Geduld in allen Dingen, vor allem aber mit dir selbst.”
Franz von Sales (Bischof, 1567 – 1622)
Ricarda und ich gehen ein Stück mit Esel Valentin spazieren. Bei einem Spaziergang mit Esel fällt leicht, was sonst manchmal schwer fällt: einfach im Moment zu sein. Mit all seiner Kraft und Wärme ist so ein Esel sehr präsent. Die Landschaft umfängt uns und der Rhythmus der kleinen harten Hufe ist unser Soundtrack. Genüsslich rupft Valentin ein paar Blätter von einem Strauch. Alle Eselrassen stammen vom Afrikanischen Wildesel ab und kommen mit karger Nahrung aus. Sie nehmen nur, was sie brauchen.
Wieviel besser würde es der Umwelt gehen, würden wir es auch so halten?
ESEL – ein Tier, unzählige Geschichten
Zurück im Gehege, versorgt Ricarda ihre Esel mit duftendem Heu. Die Eselsohren signalisieren Freude und die kleine Karawane trottet hinter Ricarda zur Futterkrippe.
So wie Hugo – der kleine Graue – sah gewiss der Esel aus, der damals im Stall zu Betlehem neben dem Jesuskind gestanden hat. Sicher war es auch so eine Eselin mit einem Fohlen, auf dem Jesus – so steht es im Matthäusevangelium – in Jerusalem eingezogen ist. Kein feuriges Streitross – eine Eselin.
Es gibt so viele Märchen, Geschichten und Lieder, in denen Esel eine besondere Rolle spielen. Da wäre z.B. der alte Esel aus dem Märchen “Die Bremer Stadtmusikanten”, der den weisen Satz “Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.” gesagt hat.
Und Dapple, der Esel, mit dem Sancho Panza treu seinem Herren Don Quijto in Miguel Cervantes Roman zur Seite steht.
Es ist wohl die Weisheit der Grautiere, deren Freundlichkeit, Besonnenheit und Bescheidenheit, die sie zu stillen Helden der Geschichte gemacht hat.
Der Umgang mit Tieren erdet uns
Während die Eselherde zufrieden ihr Heu vertilgt, statten wir Ricardas Hühnern noch einen Besuch ab. Wunderschöne Rassen tummeln sich bei ihr, und jedes Huhn hat einen Namen. Ein kleiner Junghahn hüpft auf Ricardas Hand und macht es sich dort bequem. “Ich liebe es, meine Hühnerschar zu beobachten. Es ist für mich so entspannend, wie übers Meer zu schauen”, schwärmt Ricarda. Mir fallen die Worte von Hermann Hesse ein:
“Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich.”
Ich glaube, Ricardas Herz ist voller Liebe für ihre Tiere. Deren Wohlbefinden ist ihr das Wichtigste, und sie freut sich über Menschen, die sie besuchen und ein ernsthaftes Interesse an ihren Tieren haben. Gerne lässt sie Gäste teilhaben an dem Glück, mit Eseln Zeit zu verbringen. Ein Spaziergang mit Eseln ist ein besonderes Erlebnis und die einzigartige Atmosphäre klingt lange nach.
“(…) Inmitten von Eseln vergeht die Zeit langsamer. In ihrer Gesellschaft geschieht alles ruhig und methodisch. Es fällt schwer, ihren arglosen Blick zu vergessen, dem die Hektik der Welt fremd ist. Er strahlt Stille aus, verbreitet Stille. Die Gedanken nehmen ihren Lauf, man träumt, versetzt sich an einen anderen Ort und gleichzeitig bleibt man ungeheuer präsent. (…)”
(aus “Die Weisheit der Esel” von Andy Merrifield)
Kontakt:
Wer Ricarda und ihre Esel besuchen möchte, kann über ihre Homepage eine Mail schreiben und einen Termin mit ihr vereinbaren. Ihr Angebot finden Sie ebenfalls auf ihrer Homepage.
Des Esels Weg
Ricarda von Holck
Dovenmühlen 5
25358 Horst (Holstein)
www.eselweg.de
Über ganz Deutschland und Europa verteilt gibt es ähnliche Angebote für Eselwanderungen, so dass Sie sicher auch in Ihrer Nähe ein Angebot finden können. Angebote für Wanderreisen mit Eseln finden Sie ebenfalls im Internet.
Hier nur einige Beispiele:
- www.eselbegegnungen.de (Eselwanderungen im Wendland und spannende Informationen zu Eseln weltweit)
- www.wandertouren-frankreich.de
- www.esel-touren.de
- www.provence.de/urlaub-machen/eselwandern.html
- www.eselwandern.de (Eselwandern in Europa)
- www.scholling-coaching.de (Eselwanderungen in der Lüneburger Heide)
Ein interessantes Video zur Geschichte der Esel finden Sie hier.
Buch-Empfehlungen:
Pawlowa oder Wie man eine Eselin um die halbe Welt schmuggelt von Brian Sewell, Insel Verlag.
Wie zu Beginn meines Textes bereits beschrieben, ist dieses Buch für mich eine echte Entdeckung!
Die Reise von Mr B und seiner Eselin steckt voller wunderbarer Augenblicke und Begegnungen. Die beiden reisen durch Länder des Mittleren Ostens und Mr B, ein Experte für antike Geschichte, lässt uns – und Pawlowa – an seinem Wissen teilhaben.
Intelligent und mit viel Witz und Ironie beschreibt Sewell die Reise des ungewöhnlichen Paares von Pakistan nach England. Was wären sie ohne hilfsbereite Menschen – mögen sie auch noch so schräg sein? Das Buch spornt an, auch einmal beherzt zu handeln, so wie alle Charaktere Sewells.
Bezaubernd sind auch die Illustrationen von Sally Ann Lassen (siehe unten), die mir während der Lektüre immer wieder ein Schmunzeln ins Gesicht gezaubert haben.
Andy Merrifields Reisebericht ist laut The Times “ein Klassiker der Entschleunigungsliteratur”.
Wochenlang wandert Merriefield mit Esel Gribouille durch die Auvergne, einer bergigen Landschaft im Zentrum Frankreichs. Wunderschöne Natur, Einsamkeit, Begegnungen und Erinnerungen begleiten die beiden Wanderer. Sie führen sich gegenseitig durch unwegsames Gelände und ihre Beziehung basiert auf Vertrauen und Geduld zwischen Mensch und Tier.
Es ist eine Expedition ins Innerste. Der sanftmütige Esel Gribouille entlockt Merriefield einfach nur durch seine Präsenz tiefe Einsichten, philosophische Gedanken und Reflektionen. Gespickt ist die Erzählung mit Passagen der Weltliteratur, in der Esel oft eine besondere Rolle spielen.
Ich habe mich gerne mit auf die Reise voll kostbarer Augenblicke nehmen lassen. Sind es doch die kleinen Momente, die unser Leben so wertvoll machen. Das Buch ist eine Anregung, genau hinzuschauen.
” (…) Die Hektik des modernen Lebens überwältigt uns und lähmt unsere Fähigkeit, zu beobachten, zu lauschen, einen Schritt zurückzutreten, zu staunen, den Blick nach innen zu richten. (…)”
Esel – Ein Portrait von Jutta Person, Matthes & Seitz Berlin.
Das hübsche Büchlein aus der Naturkunden-Reihe von Matthes & Seitz erzählt die Kultur- und Naturgeschichte des Esels. Über die Rolle des Esels im Christentum, in der Literatur, in der Kunst und der Geschichte gibt es tatsächlich viel zu berichten. Jutta Person tut dies auf unterhaltsame Weise. Zahlreiche Abbildungen illustrieren die Rollen, die der Esel im Laufe der Zeit eingenommen hat. Am Ende des Buches porträtiert Jutta Person noch die wichtigsten Eselrassen.
Ein nettes Buch für alle, die mehr über Esel wissen möchten – und ein wunderschönes zugleich. Das Buch ist hochwertig gedruckt, fadengeheftet und mit Frontispiz (Verzierung eines Buchtitelblattes) sowie farbigem Kopfschnitt versehen. Ein kleines Schmuckstück also, das durch weitere spannenden Titel ergänzt werden kann (z.B. über Hirsche, Elefanten, Käfer, Schnecken, Krähen, etc.)
Ein echter Kinderbuchklassiker von 1968! Ich habe das Bilderbuch, in dem die kleine Susi eine wunderbare Zeit auf einer kleinen Mittelmeerinsel mit dem knuffigen Esel Benjamin verbringt, geliebt. Wie bestimmt viele von Ihnen, oder?
Ein wunderschönes Kinderbuch über Freundschaft und die respektvolle Liebe zu einem Tier mit atmosphärischen Schwarz-Weiß-Fotografien.
Wer ein Geschenk oder Mitbringsel für ein Kind (ab 4 Jahre) sucht, sollte unbedingt mal einen Blick in dieses Buch werfen (Weihnachten rückt ja näher…).