“Mit welchen Dingen du dich auch beschäftigst, du wirst immer merken, dass den guten und nützlichen auch Schönheit gegeben ist.”
(Baldassare Castiglione, 1478 – 1529, ital. Schriftsteller)
So manche Antiquität und viele Vintage-Klassiker verbergen unter ihrer Patina eine spannende Geschichte. Vielleicht handelt es sich um das Ergebnis einer außergewöhnlichen Vision oder einer langwierigen Tüftelei? Vielleicht handelt es sich um etwas damals Revolutionäres, gar eine technische Innovation?
Einst als Novum gefeiert, haben wir vieles mittlerweile in die Kategorie der “zeitlosen Klassiker” eingeordnet.
Ich mag diese Objekte, die eine Geschichte in sich tragen und umgebe mich gerne mit ihnen. Sie sind mehr als die Summe all ihrer Teile. Manchmal, wenn mein Blick sie streift, frage ich mich: Wo kommst du eigentlich her? Was hast du erlebt? Wer hat dich geschaffen? Woher stammt die Delle?
Ganz selbstverständlich richte ich die Vintage-Leuchte – auch so ein zeitloser Klassiker – auf mein Buch aus. Und wenn ich einen Knopf annähen möchte, drehe ich den Schirm so, dass meine Arbeit optimal ins Licht gerückt ist. Selbstverständlich, oder?
Die Leuchte stammt etwa aus den 2oer Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als im Zuge der Industrialisierung viel in Werkshallen und Fabriken gearbeitet wurde – auch in den dunklen Morgen- und Abendstunden. Elektrisches Licht war eine wegbereitende Errungenschaft, und meine Leuchte hatte sicher einen wichtigen Job! Denn gutes Licht ist beim Arbeiten doch so wichtig.
Den Blick zurück lenken
Wie innovativ meine Leuchte aber wirklich einmal war, habe ich gerade erst auf einer interessanten Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe erfahren.
“100 Jahre lenkbares Licht”.
Denn natürlich war es keinesfalls immer selbstverständlich, dass man eine Leuchte auf sein Werkstück ausrichten konnte. Große Pendelleuchten hingen von den Decken der Fabrikhallen. Licht war da, aber von oben kommend, warfen die über die Werktische gebeugten Körper der Arbeiter Schatten auf ihre Werkstücke. Kennen Sie das? Sie sitzen sich selbst im Licht? Ein höchst unbefriedigender Zustand!
Raffinierte Lichtgestalt
Das dachte sich auch der junge Funkingenieur Curt Fischer aus Thüringen, der 1919 in Auma eine Werkzeug- und Maschinenfabrik übernahm. Fischers Ziel war es, eine lenkbare Leuchte zu entwickeln, die möglichst mit einer Hand genau zu positionieren war.
Mit der Entwicklung seiner ersten Scherenleuchte kam Curt Fischer seinem Ziel schon sehr nahe. Weitere Entwürfe folgten. Fischers “Lenklampen” mit beweglichen Gelenken ließen sich vielfach verstellen, blieben in gewünschter Position, der Schirm ließ sich drehen. Das Licht konnte dahin gebracht werden, wo es gebraucht wurde. Eine Neuheit! Lenkbares Licht. Logisch, dass das große Potential hinter der Idee schnell auch andere Erfinder und Unternehmen inspiriert hat und die funktionalen Leuchten rasch sogar in Privaträumen Einzug hielten.
Die patentierten Gelenkleuchten, die unter dem Firmennamen Midgard konzipiert und gefertigt wurden, machten Curt Fischer zum Erfinder des lenkbaren Lichtes.
Besonders die Midgard “Typ 113” sorgte für Begeisterung und wurde zum angesagten Einrichtungsgegenstand, ist sie doch mit ihrem geschwungenen “Hals“äußerst elegant! Einer der größten Fans der Midgard-Leuchten war Walter Gropius, und nicht nur die Metallwerkstätten des Bauhauses waren mit der “113” ausgestattet – Gropius nutzte die Leuchte auch Zuhause.
Mehr als schöner Schein
Geprägt durch die Designsprache des Bauhauses verzichten die damals entstandenen Entwürfe auf überflüssige Dekors. Vereinfachte Elemente ermöglichten die Produktion hoher Stückzahlen für die Industrie. Viel Wert wurde auf die Qualität der Konstruktion und des Materials gelegt.
Das macht diese Stücke unverwüstlich und reparabel. Sie scheinen für die Ewigkeit gebaut. Zeitlos, unabhängig von Moden, von beeindruckender Funktionalität und schlichter Schönheit. Kein Wunder, dass sich diese Arbeitsleuchten heute noch größter Beliebtheit erfreuen. Dank der grundsoliden Konstruktion sind viele Originale erhalten geblieben. Sie überdauern Generationen und stehen somit auch beim Thema Nachhaltigkeit ganz vorne! Ein Aspekt, den die Erfinder, Konstrukteure und Designer damals wohl noch nicht im Blick hatten.
Mit voller Kraft voraus
Thomas Alva Edison, Erfinder der praktisch nutzbaren Glühbirne, “erleuchtete den Pfad des Fortschritts”. So hieß es 1928 auf einer Ehrenmedaille, die er vom amerikanischen Kongress erhielt.
Claus Fischer brachte die Erleuchtung in Bewegung und damit in die richtige Position. Also ein echter Pionier der modernen Beleuchtung.
Und wieder einmal wird mir klar, wie spannend es ist, die Dinge, die uns umgeben, manchmal ein bisschen genauer zu betrachten. Liebevoll drehe ich meine Vintageleuchte zu mir heran. Vintage – ob wohl damals, im goldenen Zeitalter der Erfindungen, jemand daran gedacht hat, dass die Zukunft auch irgendwann einmal Vergangenheit sein würde? Heute ermöglichen die LEDs ein völlig neues Denken, und Lampenformen lösen sich aus alten Mustern, mit voller Leuchtkraft voraus…
100 Jahre lenkbares Licht
Die Ausstellung im Museum für Kunst & Gewerbe ermöglicht einen Blick auf den Ursprung und die Entwicklung lenkbaren Lichtes vom frühen 20. Jahrhundert bis heute. “100 Jahre lenkbares Licht. Ursprung und Aktualität beweglicher Beleuchtung” zeigt 44 Originale der Firma Midgard und 20 weiterer Hersteller sowie zahlreiche Zeichnungen, Patente, Briefe und kurze Filme. Die Exponate werden auf Endlosregalen der Firma Thonet präsentiert – sehr ästhetisch! Die rekonstruierte, lichte Bogenhalle von 1910 mit 12 deckenhohen Fenstern ist ein wunderbares Ambiente für diese Ausstellung.
“100 Jahre lenkbares Licht” ist bis 1. Juni 2020
im Museum für Kunst und Gewerbe, Steinvorplatz, Hamburg, zu sehen.
Konzipiert wurde die Ausstellung von dem Journalisten Thomas Edelmann.
Und was ist aus der Firma Midgard geworden?
2015 zog die Firma Midgard nach Hamburg. Joke Rasch und David Einsiedler übernahmen das Unternehmen von der dritten Generation der Fischers. Seit 2017 werden die Maschinenleuchten unter Verwendung des Originalwerkzeugs und der alten Maschinen in Deutschland wieder hergestellt. Wer Lust auf weitere Informationen über das traditionsreiche Unternehmen und seine wunderbaren Leuchten hat, wird hier fündig: www.midgard.com
Tipps:
Die vielschichtige Ausstellung “Sagmeister & Walsh Beauty” (noch bis zum 26.4.2020 zu sehen), in der sich alles um das Thema Schönheit dreht, ergänzt einen Besuch im Museum für Kunst und Gewerbe sehr passend – und wenn man schon einmal da ist…
Spektakuläre interaktive und multimediale Installationen laden ein, den Kosmos des Schönen zu entdecken. Übrigens: Die tolle Ausstellung eignet sich unbedingt auch für einen Besuch mit Kindern!
Das passt dazu:
Zu Besuch bei flat six. Möbel und Leuchten aus dem Zeitalter der Industrialisierung
Soweit nicht anders angegeben, stammen alle Fotografien von mir.